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Rezension "Views" von Marc-Uwe Kling und warum mich das Ende wütend gemacht hat

Als langjähriger Känguru-Fan wollte ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, das neue Buch von Marc-Uwe Kling zu lesen (okay, ich habe es als Hörbuch gehört). Meistens gelingt es mir, die Lektorinnenbrille abzusetzen, wenn ich mich in der Freizeit mit Literatur beschäftige. Doch in diesem Fall hatte ich das starke Bedürfnis, eine professionelle Einschätzung zu diesem Buch abzugeben. Gerade weil es auf der Bestsellerliste steht und ein recht großes Publikum erreichen dürfte, finde ich es wichtig, auf gewisse Dinge aufmerksam zu machen. Denn so viel sei schon mal gesagt: Mich hat das Ende ziemlich fassungslos gemacht und ich hätte als Lektorin dieses Projektes viele Dinge anders entschieden. (Falls du auch gerade ein Buch schreibst und dir eine professionelle Einschätzung wünschst, schau doch gerne mal in meiner Sprechstunde vorbei.)

 

Aber fangen wir vorne an.

 

Achtung, dieser Text wird nicht ohne Spoiler auskommen. Ich werde dich aber darauf hinweisen, sodass du selbst entscheiden kannst, ob du weiterlesen möchtest.

Über den Autor

Marc-Uwe Kling ist unter anderem Autor der bekannten Känguru-Heptalogie, Liedermacher und Regisseur. Er schreibt zudem Kinderbücher wie „Das NEINhorn“, entwickelt Spiele und betreibt die Lesebühne „Die Lesedüne“ in Berlin. Sein Roman „Qualityland“ wurde bislang in 24 Sprachen übersetzt.

Über das Buch

Ein schockierendes Verbrechen – und alle werden es sehen

 

Die 16-jährige Lena Palmer verschwindet spurlos. Drei Tage später taucht sie in einem verstörend brutalen Video wieder auf, welches in atemberaubendem Tempo viral geht. BKA-Kommissarin Yasira Saad soll Lena finden und die Täter identifizieren. Ihr bleibt wenig Zeit, denn schon gibt es erste gewalttätige Demonstrationen in deutschen Städten. Eine rechtsradikale Gruppierung namens »Aktiver Heimatschutz« gewinnt rasant an Zulauf. Kann Yasira die Täter verhaften, bevor der Lynchmob zuschlägt und der Rechtsstaat zu wanken beginnt?

 

Quelle: https://marcuwekling.de/de/werke/

Mein Höreindruck

Normalerweise gehören Thriller nicht zu meinem literarischen Repertoire, weil ich das Genre als relativ breit gefächert empfinde und nie so recht weiß, wie gewaltvoll die Darstellungen sind und ob ich hinterher noch schlafen kann. Hier habe ich eine Ausnahme gemacht, weil ich neugierig darauf war, wie Kling das Genre besetzt und weil ich gehofft hatte, dass der Inhalt durch seinen sonst eher humoristischen Schreibstil und seine treffenden politischen Beobachtungen aufgelockert wird.

 

Humor spielt zwar tatsächlich eine (verständlicherweise) untergeordnete Rolle, ich persönlich hätte es jedoch sehr begrüßt, eine Inhaltswarnung vorab zu bekommen. Es werden zum Teil doch recht explizit ziemlich gewaltvolle Szenen geschildert, auf die ich gerne vorbereiteter gewesen wäre.

 

Falls du das Buch noch nicht gelesen hast, hier die Cotent Notes, die ich mir gewünscht hätte: Sexualisierte Gewalt/Vergewaltigung, Rassismus, rechtsradikale/rassistische Gewalt. Sie gelten auch für diese Rezension, da ich einiges leider grob nacherzählen muss. Aber kommen wir erstmal zum allgemeinen Eindruck:

 

Über weite Teile hinweg ist das Buch ein solider Krimi. Wir verfolgen zunächst die polizeilichen Ermittlungen im Fall Lena und begleiten vor allem die Kommissarin Yasira Saad bei ihrer Aufklärungsarbeit. Sie ist nicht zufällig mit diesem Fall betraut worden, sondern weil es ihrer Dienststelle für die öffentliche Wirkung wichtig war, dass sie, ebenso wie die mutmaßlichen Täter aus dem Video, einen Migrationshintergrund hat.

 

Mit ihr im Team ermitteln noch sechs weitere Personen, die etwas blass und ein wenig klischeehaft gezeichnet werden. Aufgrund ihrer recht kleinen Rolle im Laufe des Buches ist das aber zu verschmerzen.

 

Als die Ermittlungsergebnisse nach längerer Zeit jedoch ausbleiben und nicht einmal der kleinste Erfolg zu vermelden ist, spitzt sich die gesellschaftliche Situation zu. Es gibt gewalttätige Demonstrationen und die neugegründete rechtsradikale Organisation „Aktiver Heimatschutz“ macht mit Hetzvideos auf sich aufmerksam, um Hass gegen die mutmaßlichen Mörder Lena Palmers zu schüren. Als schließlich ein Video auftaucht, in dem Anführer „Bär“ Selbstjustiz übt und einen Schwarzen Mann erschießt, kippt die Stimmung endgültig. Trittbrettfahrer lassen nicht lange auf sich warten und die Stimmen, die der Polizei und insbesondere Yasira Saad als Hauptkommissarin willentliches Versagen vorwerfen, werden immer lauter.

 

Saad selbst gerät ins Visier der Aufmerksamkeit und versucht verzweifelt, den Fall so schnell wie möglich zu lösen, um sich und ihre Familie zu schützen. Dabei greift sie auch zu unkonventionellen Mitteln und trifft ein paar folgenschwere Entscheidungen, die schließlich zu ihrer Suspendierung führen.

 

Bis zu diesem Punkt hat mir das Buch überwiegend gut gefallen. Yasira Saad ist eine tolle Protagonistin und auch wenn wir in die Untiefen menschlicher Abgründe hineinblicken und teils wirklich krasse Sachen passieren, bleibt alles recht nachvollziehbar erzählt – nicht zuletzt, weil Kling sich an realen Begebenheiten orientiert. Das macht den Thriller unglaublich spannend. Auch die sich im Kreis drehenden Ermittlungen sorgen für eine gewisse Spannung und laden zum Miträtseln ein. Der Plot Twist kam dann für mich nicht ganz so überraschend, weil er einen längeren Vorlauf hat und mir recht schnell klar war, worauf das hinauslaufen könnte.

 

Diese Auflösung des Falls um das Video mit Lena Palmer finde ich inhaltlich so schockierend wie gelungen, allerdings bin ich mit der Umsetzung nicht besonders zufrieden. Gerade im letzten Drittel des Buches geht es richtig zur Sache und ich muss sagen, dass Kling mich hier ein wenig verloren hat. Es werden einige Krimi-Klischees bedient, die ich etwas flach und fast schon unglaubwürdig fand. Außerdem gerät die Aufklärung des Falls ein wenig in den Hintergrund und wird von der aus meiner Sicht absolut unnötigen Brutalität am Ende überschattet.

 

Ich werde im Folgenden auf das Ende noch etwas genauer eingehen und erklären, warum ich es nicht besonders gelungen fand und es mich sogar wütend gemacht hat. Aber Achtung, ich werde nicht ohne Spoiler auskommen!


Ab hier gibts Spoiler!


Ein paar Worte zum Ende

Schon während sich die Situation in der Gesellschaft zuspitzt und der „Aktive Heimatschutz“ immer mehr Mitglieder gewinnt, wird in diesen Kreisen die Forderung laut, Yasira Saad höchstpersönlich solle für das „bezahlen“, was Lena Palmer angeblich widerfahren ist. Nicht nur, weil die Organisation ihr und der gesamten Polizei vorwirft, Ermittlungsergebnisse zu unterschlagen, um die Täter zu decken, sondern auch, weil sie als Frau of Color natürlich ebenso Teil des „Feindbildes“ ist.

 

Die grausame Forderung: Da Lena Palmer von mehreren Schwarzen Männern vergewaltigt und schließlich ermordet worden sein soll, soll nun Saad ebenso von mehreren weißen Männern vergewaltigt und schließlich ermordet werden.

 

So weit, so schlimm, so realgetreu. Dass dieser Plan am Ende tatsächlich in die Tat umgesetzt und auch beschrieben wird (abgesehen von der Tötung, die misslingt), werde ich gleich noch im Detail sowohl auf inhaltlicher als auch auf dramaturgischer Ebene kritisieren.

Doch zunächst zu den Geschehnissen: Saad, mittlerweile suspendiert, ermittelt auf eigene Faust weiter (hier haben wir das Krimi-Klischee, das mir nur ein müdes Augenrollen entlockt hat. Was soll da schließlich schiefgehen?) und wird, kurz nachdem sie das Rätsel um den Fall geknackt hat, von mehreren bewaffneten Männern überrascht und überwältigt.

 

Nach einem Cut aufgrund von Saads Bewusstlosigkeit steigen wir wieder in die Handlung ein, als die Männer in vollem Gange sind, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Wie durch ein Wunder schafft die Kommissarin es, alle Täter zu überwältigen und mit letzter Kraft zu erschießen, bevor sie schließlich von ihrem eigenen Team gerettet wird. Noch vor der auserzählten Rettung endet die Geschichte.

 

Dieses Ende macht mich aus gleich mehreren Gründen fassungslos und wütend – und das nicht nur, weil es ein explizit beschriebenes unfassbar grausames Gewaltverbrechen an einer weiblichen Person beinhaltet.

 

Starten wir mit der Analyse auf der dramaturgischen Ebene. Hier gibt es drei Punkte, auf denen meine Wut sich begründet:

  1. Kling lässt seine starke Hauptfigur im Stich. Eine gute Hauptfigur trägt die gesamte Handlung. Sie ist im besten Fall so angelegt, dass die Lesenden sich in sie hineinversetzen oder zumindest ihre Handlungen und ihren Charakter nachvollziehen können. Das ist wichtig, um mitfiebern, den Schmerz teilen und die Erfolge feiern zu können. Eine Hauptfigur, die den Lesenden egal ist, trägt nicht zur Handlung und zum Spannungsaufbau bei. All dies gelingt Kling. Doch gerade weil eine mitunter enge Bindung zwischen Hauptfigur und Lesenden entsteht, muss man gut abwägen, was man beiden Seiten zumuten kann. In diesem Fall habe ich den Eindruck, Kling „opfert“ Yasira Saad aus einem egoistischen Grund:

  2. Es wirkt, als wollte Kling möglichst stark schockieren, um seiner Geschichte mehr Schlagkraft zu verleihen. Ein Stückweit kann ich dieses Anliegen sogar verstehen, denn Kling verhandelt in dem Thriller teilweise reale gesellschaftspolitische und gesellschaftliche Zustände und der Wunsch, so drastisch wie möglich zu sein, um mehr Menschen zu erreichen und vielleicht aufzurütteln, ist aus dieser Sicht nachvollziehbar. Natürlich ist das nur meine Interpretation, aber ich kenne dieses Bedürfnis auch von mir selbst. Gerade in meiner veganen Anfangszeit war ich fassungslos darüber, welche Zustände in Massentierhaltungen herrschen und habe garantiert auch nicht nur einmal diese Schocker-Videos geteilt. Doch wie es leider so oft ist: Meistens bringt es nicht viel. Die Menschen verschließen noch eher die Augen oder wenden sich von dem Thema ganz ab, weil sie sich nicht mit dieser Gewalt beschäftigen können oder wollen. Und die, die sich schon damit beschäftigen, wissen um die Zustände und brauchen diese Schockvideos nicht – im Gegenteil können sie sogar zu weiterer Traumatisierung führen. Und ich finde, ähnliches passiert auch in „Views“, denn:

  3. Es ist aus dramaturgischer Sicht überhaupt nicht nötig, diese Gruppenvergewaltigung am Ende stattfinden zu lassen. Schon im Laufe des ganzen Buches wird deutlich, wie radikal, rücksichtslos und brutal der „Aktive Heimatschutz“ vorgeht. Dass es überhaupt den Plan gibt, eine Art „Vergeltung“ zu vollziehen, indem man den angeblichen Fall Lena Palmer umdreht, ist vollkommen ausreichend, um die Grenzenlosigkeit dieser Gewaltbereitschaft und die verquere Sicht der Dinge zu verdeutlichen. Manchmal liegt mehr Stärke in den Dingen, die man sich vorstellen kann, als in denen, die wirklich passieren.

 

Und auch auf inhaltlicher Ebene habe ich drei Punkte herausgearbeitet, warum ich mir gewünscht hätte, das Ende wäre ein anderes gewesen:

  1. Die Geschichte wird nicht richtig abgeschlossen, der Fall nicht offiziell aufgeklärt. Lena Palmers Schicksal bleibt am Ende einer Vermutung der Kommissarin überlassen. Das ist wirklich schade, da mit diesem Fall alles angefangen hat. Auch hier beschleicht mich wieder die Vermutung, dass der Schock-Effekt wichtiger war als eine korrekte Auflösung.

  2. Auf Instagram sagt Kling in einem Q&A zu „Views“, er habe eine längere Version des Endes geschrieben, sich dann aber dagegen entschieden, weil es sowieso nur so weitergeht, wie man sich das eh denkt. Ich finde allerdings, dass es gar nicht so klar ist, wie es nach Yasira Saads knappem Überleben weitergeht. Vermutlich kann sie durch das Trauma ihren Dienst nicht wieder antreten. Erinnert sie sich nach ihrer Bewusstlosigkeit überhaupt noch daran, welche Vermutungen sie über den Verbleib Lena Palmers angestellt hatte? Und wenn ja, können all die Erkenntnisse, die sie gesammelt hat, während sie suspendiert war, überhaupt verwendet werden? Und was passiert auf gesellschaftlicher Ebene, wenn die Herkunft des Videos aufgeklärt wird? Bei mir sind sehr viele Fragen offengeblieben, deren Verhandlung und Aufklärung ich tatsächlich noch spannend gefunden hätte. 

  3. Mein dritter Punkt schließt noch einmal den Bogen zu den drei oben beschriebenen Punkten. Es bleibt der Eindruck, dass nicht einfach so eine starke weibliche Hauptfigur mit Migrationshintergrund gewählt wurde, nein, die Figur musste so sein, weil die Vergewaltigung am Ende sonst nicht so gut begründbar gewesen wäre. Das Fake-Vergewaltigungsvideo mit Lena Palmer hätte sich sonst nicht umdrehen lassen. Und ich muss sagen, dass mir diese Prämisse, eine Frau of Color zu erschaffen, nur um ihr ein bestimmtes Leid zufügen zu können, Bauchschmerzen bereitet. Ist es doch oft genug genau das, was Schwarzen Frauen und Frauen of Color passiert: dass sie teils willkürlicher Gewalt (gerade von Männern) ausgesetzt sind. Ja, man kann darüber diskutieren, wann es sinnvoll ist, die Realität abzubilden, und manchmal sind unschöne Darstellungen dafür wichtig. In diesem Fall finde ich, ist der Autor aus allen genannten Gründen zu weit gegangen. Hier hätte ich mir mehr Sensibilität gewünscht.

Fazit

Tja, wie fällt nun mein Fazit aus? Ich muss sagen, ich weiß es selbst nicht so genau. Die ersten zwei Drittel des Buches haben mir überwiegend gut gefallen und die Auflösung bietet inhaltlich eine neue und realgetreue Idee. Das Thema ist spannend und aktuell und schon hier gibt es Einblicke in menschliche Abgründe, die aber zum Plot passen. Auch der Schreibstil ist locker und flüssig, zum Teil mit Humor gespickt und das vom Autor selbst eingelesene Hörbuch macht natürlich auch Spaß. Verzeihen kann ich die teilweise vorhandenen Krimi-Plattitüden, die vielleicht auch in Klings fehlender Krimi-Erfahrung begründet liegen. Das Ende relativiert diesen Eindruck jedoch – das kann ich nicht verzeihen. Tatsächlich wiegt die Enttäuschung hier so schwer, dass ich das Buch eigentlich gar nicht empfehlen mag.

 

 

Was denkst du über das Buch? Wie ging es dir beim Lesen von „Views“? Schreib deine Meinung gerne in die Kommentare, das würde mich wirklich brennend interessieren!

Wer schreibt hier?

 

Hey, ich bin Melina!

 Ich bin freie Lektorin und Schreibbegleiterin und helfe angehenden Autor*innen dabei, inspirierende Bücher zu schreiben, die ihre Leser*innen berühren.

Auf meinem Blog findest du Tipps und Wissenswertes rund ums Schreiben und Veröffentlichen. Schön, dass du da bist!

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