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Kreatives Schreiben als Akt radikaler Selbstfürsorge – 3 Schreibübungen für Ruhe im Kopf und Verbindung zu dir selbst

Momentan habe ich das Gefühl, die Lage der Welt spitzt sich zu. Vielleicht ist das ein subjektives Empfinden, das durch die Omnipräsenz der Nachrichten in den sozialen Medien verbreitet wird. Vielleicht aber auch nicht. In Gesprächen mit Freund*innen sind wir uns auf jeden Fall einig: Vieles, was auf der Welt passiert, ist momentan schwer auszuhalten. Wir schwanken zwischen Ohnmacht und Resignation, dabei bräuchte es doch eigentlich gerade jetzt Zusammenhalt und gute Ideen.

 

Doch wie sagt man so schön: Nur wer selbst gut genährt ist, kann auch andere versorgen. Wenn es dir ein wenig wie mir geht, hast du vielleicht auch eine Sehnsucht nach Verbundenheit, nach Ruhe oder nach dem Gefühl, dass für einen Moment alles gut ist und alles sein darf, wie es ist.

 

In diesem Artikel möchte ich dir mit an die Hand geben, wie du dir schreibend einen solchen Moment schaffen kannst. Dafür schauen wir uns zunächst an, was es mit dem Konzept der „radikalen Selbstfürsorge“ auf sich hat. Und dann bekommst du natürlich noch einige praktische Tipps zur Umsetzung.

 

 

Schön, dass du da bist! Lass uns beginnen.

Radikale Selbstfürsorge – Was ist das überhaupt?

Der Begriff der „radikalen Selbstfürsorge“ entstammt der feministischen Theorie und bildet eine Art Gegenentwurf zur mittlerweile doch sehr kommerzialisierten „Selfcare“.

 

Während Selbstfürsorge bzw. Selfcare im kapitalistischen Verständnis eher auf innere und äußere Selbstoptimierung abzielt und unterschwellig zum Ziel hat, den eigenen „Wert“ zu steigern bzw. die Arbeits- und Leistungsfähigkeit zu erhalten oder sogar zu erhöhen, geht es bei der radikalen Selbstfürsorge fast schon um einen widerständigen Akt.

 

Statt Konsum zu nutzen, um sich besser zu fühlen, sich ein gewisses Lebensgefühl zu erkaufen oder vermeintliche Mängel auszugleichen (wir denken zum Beispiel an Luxus-Wellness-Schaumbäder, Schönheitsbehandlungen oder „Fett-weg-Shakes“), geht es bei der radikalen Selbstfürsorge darum, gut zu sich selbst zu sein, egal wie viel man gerade leistet oder wie sehr man der Norm entspricht oder auch nicht. Denn jeder Mensch ist immer gleich wertvoll – auch wenn der Kapitalismus uns etwas anderes erzählt.

 

Ein wichtiger Teil dessen ist es, die eigene innere Stimme, also wie wir mit uns selbst sprechen, zu überprüfen und weicher werden zu lassen. Denn oft sind wir zu uns so kritisch und hart wie wir sonst zu keiner anderen geliebten Person.

 

Ein tieferliegender Gedanke dahinter ist: Wer mit sich selbst zufrieden und wertschätzend umgeht, braucht weniger Konsumgüter, um die eigenen vermeintlichen Makel zu kaschieren, und ist gleichzeitig oft auch wohlwollender und liebevoller im Umgang mit anderen. Konkurrenzdruck, der durch das Gefühl entsteht, nicht gut genug zu sein, und in unserer Gesellschaft gerne damit einhergeht, andere abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten, wird so entschärft. Wenn jede*r gut auf sich selbst achtet, liebevoller zu sich wird und sich für die eigenen Stärken öffnet, kann aus dem Konkurrenzdenken ein Wir-gegen-das-System-Gefühl entstehen, das für Gemeinschaft und Verbundenheit sorgt. 

 

 

 

Buchtipp:

"Radikale Selbstfürsorge Jetzt!" von Svenja Gräfen 

 

Wenn du tiefer in das Thema der radikalen Selbstfürsorge einsteigen möchtest, empfehle ich dir von Herzen das Buch „Radikale Selbstfürsorge Jetzt!“ von Svenja Gräfen. Hier geht sie auf die Hintergründe detailliert ein und erzählt von ihren eigenen Strategien.

 

 

 

 

Und so spannen wir den Bogen zurück zum Schreiben: Gerade die Künste sind in unserem kapitalistischen System einem besonderen Rechtfertigungsdruck unterworfen und werden gerne mal belächelt. Kein Wunder, dass da Druck entsteht, etwas „Besonderes“, „Herausragendes“ erschaffen zu wollen – und dass die innere Stimme dann besonders kritisch zum Vorschein kommt. Schauen wir uns also nun an, wie es gelingen kann, schreibend etwas mehr Sanftheit und Fürsorge uns selbst gegenüber zu kultivieren.

Schreiben ohne den Anspruch auf Perfektion und kapitalistische Verwertbarkeit

Um den ersten Schritt zu mehr Sanftheit zu gehen, braucht es einen Überblick über den Status quo. Nimm dir gerne einen Moment Zeit, um zu überlegen, was das Schreiben für dich bedeutet und wo bzw. wie du es be- und abwertest. Welche Maßstäbe legst du an deine Kreativität und an deine Texte an? Welche Maßstäbe legst du an die Kreativität und die Texte anderer Menschen an? Kannst du einen Unterschied feststellen?

 

Und dann lade ich dich ein, folgende Idee auf dich wirken zu lassen: Was wäre, wenn es deine Bewertungen nicht gäbe? Wie würdest du dich mit deiner Kreativität und deinem Schreiben fühlen? Welche neuen Räume würden sich öffnen? Was wäre auf einmal möglich, das du dich jetzt noch nicht traust?

 

Wie wäre es, wenn:

  • nicht jeder Text ein Geniestreich sein müsste?
  •  nicht aus jeder Idee ein Buch werden muss?
  • Raum für spielerisches Ausprobieren bleibt?
  • sich deine Kreativität ganz zweckfrei entfalten darf?
  • du dir erlaubst, einfach drauflos zu schreiben?

Schreiben nur um des Schreibens Willen kann unendlich befreiend sein, weil es den urmenschlichen Spieltrieb und die uns eigentlich mitgegebene Neugier befriedigt. Es öffnet neue Räume, um sich selbst kennenzulernen oder unkonventionellen Ideen nachzugehen, und eignet sich ganz nebenbei auch hervorragend, um die eigene Schreibstimme zu finden.

 

Und so kann es dann quasi „hintenrum“ auch zu einer Möglichkeit werden, das „professionelle“, also auf Veröffentlichung ausgerichtete Schreiben zu beflügeln. 

Methoden: So gelingt das Schreiben als Selbstfürsorge

Nun lass uns etwas praktischer werden. Ich stelle dir im Folgenden drei Methoden vor, die sich zum Schreiben ohne Perfektionsdruck eignen.

 

Bevor du loslegst, denke daran: Das Schreiben als Selbstfürsorge soll dir in erster Linie guttun. Daher versuche, allen Druck rauszunehmen. Spüre einmal in dich rein, was du gerade brauchst. Ist dir nach freiem Aufschreiben deiner Gedanken und Gefühle oder nach einer eher kreativen Auseinandersetzung mit dir, deiner Umwelt oder etwas ganz anderem?

 

Wenn du magst und es dir hilft, kannst du dich auch mit Musik, Kerzen, Düften etc. einstimmen, um bei dir anzukommen. Nutze hier einfach etwas, mit dem du dich gut fühlst. Du kannst auch eine Meditation vorab machen. Oder du legst einfach so los.

Triff zu Beginn eine Abmachung mit dir selbst. Schicke deine innere Kritikerin kurz in den Urlaub und erlaube dir selbst, dich auszuprobieren und frei zu sein in dem, was passiert. Erwarte nichts von dir, sondern versuche neugierig zu sein und fließen zu lassen, was auch immer kommt.

 

Erinnere dich daran, dass du dir gerade etwas Gutes tun willst. Deinen Text kannst du danach guten Gewissens wegwerfen, wenn du möchtest. Im Prinzip geht es auch gar nicht um das Ergebnis, das du aufs Papier bringst, sondern um den Prozess.

Journaling/Freewriting

Diese Methode kennst du vermutlich schon. Vielleicht hast du sie auch schon mal ausprobiert. Ich finde, es ist eine wundervolle Technik, um mit sich selbst in Kontakt zu kommen, die eigenen Gedanken zu sortieren und tiefer hinter die Fassade zu blicken.

 

Journaling oder Freewriting eignet sich also, wenn du das Gefühl hast, von etwas belastet zu sein, wenn dir der Kopf schwirrt oder du dich nach Verbindung mit dir selbst sehnst. Genauso kannst du zu einem konkreten Thema oder einer Fragestellung schreiben. Durch das „endlose“ Schreiben ohne Denkpausen schalten wir die Kritikerin aus und konzentrieren uns automatisch mehr auf den Prozess. Außerdem kannst du verhindern, dass deine Gedanken abschweifen, und du lädst dein Gehirn ein, immer tiefer einzutauchen.

 

So geht’s:

Für diese Übung ist es wichtig, dass du mit der Hand schreibst. Nimm dir also Papier und Stift und stelle einen Timer auf 10 Minuten. Atme einmal tief durch und überlege dir, ob du einfach drauflos schreibst oder ein bestimmtes Thema ergründen willst.

Sobald die Zeit läuft, schreibst du, was immer dir in den Kopf kommt. Mache dabei keine Denkpausen und bewerte nicht, was da kommt. Höre nicht auf zu schreiben, bis die Zeit abgelaufen ist. Sollte dir nichts mehr einfallen, wiederhole den letzten Satz oder schreibe „Mir fällt nichts mehr ein“, bis ein neuer Gedanke kommt.

 

Sobald der Timer klingelt, darfst du den Stift absetzen. Spüre einen Moment nach. Wie fühlst du dich gerade? Entscheide dann, wie du weiter vorgehen möchtest. Fühlst du dich befreit und bereit, in deinen Alltag zurückzukehren? Dann tue das! Ist da noch etwas in dir aufgetaucht, zu dem du weiterschreiben möchtest? Gehe auch diesem Impuls nach.

 

Du darfst deinen Text danach entsorgen, ohne ihn dir noch einmal durchzulesen. Wenn du zu einem konkreten Thema geschrieben hast, und dein Text Lösungsansätze enthält, darfst du sie dir natürlich markieren oder auf ein neues Blatt schreiben und mit ihnen weiterarbeiten.

Nature Writing

Das Schreiben in der Natur verbindet auf wundervolle Art und Weise zwei sehr erdende Dinge miteinander. Indem du dich bewusst draußen aufhältst, am besten natürlich in einer grünen Umgebung, kannst du Kraft tanken und deine Gedanken ordnen. Das Schreiben unterstützt diesen Prozess und eignet sich gut, um bei dir selbst einzuchecken und den Fokus neu zu setzen.

Gerne kannst du dir einfach mit Stift und Zettel einen ruhigen Platz in der Natur suchen und deine Gedanken wie beim Journaling frei fließen lassen. Du kannst aber auch mit der Natur schreiben.

 

So geht’s:

 

Wenn du deinen Platz gefunden hast, beobachte, was es um dich herum zu entdecken gibt. Beginne damit, zu beschreiben, was du siehst. Achte auf die Details. Gibt es etwas, das dir eine Geschichte erzählt? Welche Empfindungen und Gedanken lösen deine Beobachtungen in dir aus? Erlaube dir, zu assoziieren, zu träumen oder sogar eine kleine Szene zu erschaffen. Schreibe auf, was immer da kommt, es gibt kein Richtig oder Falsch. 

Schreiben mit einem Impuls

Wenn du Lust hast, dich eher kreativ auszutoben statt deinen eigenen Gedanken nachzuspüren, ist diese Methode genau richtig. Sie lässt sich mit ein bisschen Übung unendlich variieren, deiner Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt.

 

So geht’s:

Suche dir einen Ausgangspunkt, zu dem du schreiben möchtest. Du kannst dich dafür von einem Gedanken, einem Satz, einem Gegenstand, einer Erinnerung, einer Zeitungsanzeige oder was immer dir einfällt, inspirieren lassen. Nutze den ersten Impuls, der kommt, und lege einfach los. Was inspiriert dich an diesem Impuls? Wo könnte der Gedanke hinführen, wenn du ihn weiterspinnst? Welche Geschichte erzählen die Gegenstände um dich herum? Was passiert im Verborgenen? Wie geht es weiter, wenn sich jemand auf die Annonce meldet?

 

Hangle dich Satz für Satz weiter in deiner Geschichte bzw. deinem Text voran. Er muss keinem klassischen Aufbau folgen oder irgendwelche Regeln beinhalten. Du darfst auch mittendrin die Protagonist*innen, das Thema, den Stil und die Perspektive verändern. Es ist alles erlaubt. Widerstehe der Versuchung, mit Logik zu arbeiten oder unbedingt einen „fertigen“, sinnvollen Text zu erschaffen. Lass es einfach fließen. Stelle dir auch für diese Übung gerne einen Timer und beende die Geschichte, wo auch immer du bist, wenn die Zeit endet.

 

Variante: Wenn es dir schwerfällt, selbst einen Impuls zu finden, kannst du zum Beispiel Bilder/Postkarten oder Storywürfel zu Hilfe nehmen. Auch für unterwegs eignet sich diese kleine Schreibübung hervorragend. Nutze sie zum Beispiel in der Bahn oder in einem Café und überlege, welche Geschichten die Menschen um dich herum zu erzählen haben.

Extratipp: Schreiben in Gemeinschaft

In meiner Ausbildung zur Schreibpädagogin habe ich wiederholt die Erfahrung gemacht, wie wohltuend es sein kann, gemeinsam in einer Gruppe zu schreiben. Wenn es einen geschützten und kritikfreien Raum gibt, in dem alles sein darf, ist das ein wahnsinnig befreiendes und vor allem verbindendes Gefühl. Vielleicht gibt es jemanden in deinem Umfeld, mit dem du dich zu regelmäßigen Schreib-Dates verabreden kannst?

 

Achtet beim gemeinsamen Schreiben darauf, nur Texte miteinander zu teilen, die euch nicht zu persönlich sind. Journaling- und Freewriting-Texte eignen sich dafür in der Regel nicht. Kreative Texte aber umso mehr. Gebt euch eine wohlwollende Rückmeldung, in der ihr euch zum Beispiel darauf bezieht, was besonders in Erinnerung geblieben oder positiv herausgestochen ist.

 

Zu sehen, wie unterschiedlich Texte sein können und welche Wirkung sie trotz ihrer Verschiedenheit entfalten, kann sehr verbindend und inspirierend sein und lenkt den Fokus von „richtig“ oder „falsch“ bzw. „gut“ oder „schlecht“ auf die Besonderheiten jedes einzelnen Textes.

 

Es gibt auch einige Anbieter*innen, die Schreibabende gestalten, in denen es um freies Schreiben geht. Vielleicht ist auch das eine Überlegung wert. Wenn du Interesse an einem solchen Angebot von mir hast, trag dich gerne ganz unverbindlich hier ein, dann erfährst du zuerst, wann es losgeht. 😊

Schreiben als Selbstfürsorge im Alltag etablieren

Wenn du merkst, dass es dir guttut, regelmäßig frei zu schreiben, kannst du überlegen, ob du eine Routine dafür etablieren möchtest. Das ist aber kein Muss und ein bisschen Typsache. Manch einer hilft es vielleicht, einen festen Termin zu haben, ein anderer schreibt lieber aus einem spontanen Impuls heraus. Beides ist absolut okay.

 

Wenn du dir Inspiration zum Aufbau einer Schreibroutine wünschst, schau doch gerne mal bei diesem Artikel vorbei: 

5+5 Tipps, um deine persönliche Schreibroutine zu entwickeln, die dich nicht stresst

 

Ich persönlich arbeite statt mit Routinen lieber mit einem „Werkzeugkoffer“. Dort hinein tue ich gedanklich all die Dinge und Übungen, die mir guttun. Wenn ich spüre, dass ich gerade gerne etwas für mich tun möchte, schaue ich hinein und nehme mir heraus, was sich für diesen Moment gut anfühlt. Manchmal ist das eine ruhige Minute zum Lesen, manchmal Yoga, ein Spaziergang, das Schreiben oder meine Lieblingsmusik aufdrehen und laut mitsingen.

 

Vielleicht magst du dir ja auch einen solchen „Selbstfürsorge-Koffer“ anlegen. Wichtig ist, dass du dir regelmäßig einen kurzen Moment, vielleicht zwei, drei Atemzüge lang, Zeit nimmst, um bei dir einzuchecken und dich zu fragen, wie es dir gerade geht und was du gerade brauchst. Auch das ist Teil der radikalen Selbstfürsorge.

 

Erinnere dich regelmäßig daran, den Druck beim Schreiben rauszunehmen und deine Kritikerin in den Urlaub zu schicken – nicht nur bei einer kleinen Schreibübung wie denen aus diesem Artikel, sondern auch wenn du gerade an einem größeren Projekt schreibst oder auf eine Veröffentlichung hinarbeitest.

 

Übe dich im Experimentieren, im Zulassen und darin, deine eigenen Grenzen im Kopf bewusst mal zu übertreten.

Ich wünsche dir viel Spaß beim Ausprobieren und hoffe, dieser Artikel inspiriert dich zu mehr Selbstfürsorge in deinem Alltag und in deinem Schreiben und kann dir ein paar ruhige Momente voller Verbundenheit schenken!

 

 

Verrate mir doch gerne in den Kommentaren, wie Selbstfürsorge für dich aussieht. Was ist in deinem „Selbstfürsorge-Werkzeugkoffer“?

Wer schreibt hier?

 

Hey, ich bin Melina!

 Ich bin freie Lektorin und Schreibbegleiterin und helfe angehenden Autor*innen dabei, inspirierende Bücher zu schreiben, die ihre Leser*innen berühren.

Auf meinem Blog findest du Tipps und Wissenswertes rund ums Schreiben und Veröffentlichen. Schön, dass du da bist!

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